Aktiver werden

 

Wenn ein Mensch wenig aktiv ist und wenig erlebt, erhält er wenig positive Verstärker, wenig Anregungen, und seine Erfahrungs- und Gefühlswelt verarmt. Passivität ist ein typisches Merkmal des depressiven Lebensstils. Bleiben positive Erlebnisse aus, wird die Stimmung des Bertreffenden noch gedrückter, noch leerer, noch freud- und mutloser. Das führt dazu, dass er noch weniger Aktivitäten aufsuchen und sich noch mehr zurückziehen wird. Als Folge davon wird seine Stimmung noch gedrückter usw. Eine Teufelsspirale ist in Gang gesetzt worden. Diese Spirale in die entgegengesetzte Richtung zu drehen, ist nicht leicht. Gefühle von Mut-, Hoffnungs- und Sinnlosigkeit halten den Patienten davon ab, sich positive Aktivitäten zu suchen. Ein depressiver Mensch empfindet bereits die alltäglichen Aufgaben oft als kaum zu bewältigende Schwerstarbeit, und wenn er vor denen endlich Ruhe hat, ist einfach keine Kraft da für Aktivitäten. Positive Denkinhalte wie Erfolgserlebnisse, Selbstbestätigung, Freude am eigenen Können, Abwechslung, Anregungen haben damit keine Chance, in den Kopf des Betreffenden zu gelangen.

Im musiktherapeutischen Setting ist es auf vielerlei Art möglich, auf harmlose, wenig anstrengende Weise aktiv zu werden. Beim Musizieren in der Gruppe muss man die Initiative ergreifen, sich zu etwas entschließen, sich etwas trauen, etwas in Gang bringen. Der Patient erfährt sich selbst als Handelnder, wenn er ein Instrument wählt, sich und die anderen gemeinsam spielen hört, ihre Reaktionen auf sein musikalisches Tun erlebt, Einfluss auf das musikalische Geschehen in der Gruppe nimmt und seine Beteiligung am Zustandekommen des Klangerlebnisses spürt. Oft erfordert dies einem Patienten zunächst zu viel Überwindung ab. Er sollte sich dann nicht zu Musizieren zwingen. Jeder Patient ist mir auch dann herzlich willkommen, wenn er erst einmal nur dabeisitzen und zuhören mag. Auch Zuhören ist eine Form der Aktivität: Die Gedanken kommen in Bewegung, u.U. werden Erinnerungen aktiviert, und möglicherweise verspürt der Patient irgendwann das Bedürfnis, mitzumachen, ohne dass er sich dazu überwinden müsste. Oder der Patient "ertappt" sich dabei, dass er mit den Füßen den Takt mitwippt, die Melodie mitsummt oder den Oberkörper hin- und herwiegt. Er ist dann gewissermaßen aktiv geworden, ohne es zu wollen und zu merken.

Gemeinsames Liedersingen hat gegenüber reinem Instrumentalspiel gewisse Vorteile: Die Liedtexte transportieren Denkinhalte, die die Aufmerksamkeit der Patienten zusätzlich binden. Die "Sprechwerkzeuge" geraten in Bewegung; die Stimme (das persönlichste aller Musikinstrumtente) erklingt. Die Gemeinsamkeit des Liedersingens schafft ein stärkeres Gemeinschaftserlebnis als instrumentales Musizieren, weil Instrumente unterschiedlicher klingen, unterschiedlicher beschaffen sind und gehandhabt werden. Außerdem gibt die Bekanntheit der Texte und Melodien Sicherheit und entlastet von der Vorstellung, sich etwas Neues einfallen lassen zu müssen. Es steht eine ganze Palette von Genres zur Verfügung: Rock, Pop, Jazz und Blues sind ebenso möglich wie Volkslied, Schlager, Folklore u.a. Manche Lieder laden zum kreativen Umgang ein (Text verändern, neue Strophen erfinden u.a.). Spaß machen vielfach auch Lieder mit Gruppenaufteilung (Kanon, Quodlibet, Call and Response).

Musikalische Spiele: Hierzu gehören Bewegungsspiele unter Einbeziehung von Bodypercussion (z.B. klatschen, stampfen, schnippen, auf die Knie schlagen) sowie von Körperbewegungen. So ein Spiel kann u.U. dem eigentlichen Musizieren vorgeschaltet werden. In der Regel sitzen oder stehen die Patienten dabei im Kreis, der Therapeut spielt eine metrisch betonte Musik; das kann ein rhythmisch-harmonisches Pattern sein, z.B. eine Quintfallsequenz oder ein Bluesschema. - Zwei Beispiele: Beim Spiel "Übernehmen" klatscht Patient A einen Rhythmus; Patient B klatscht diesen nach und unmittelbar darauf einen selbsterfundenen; jetzt klatscht Patient C den Rhythmus von Patient B nach, und gleich danach einen selbsterfundenen usw. Beim Spiel "Hin und Her" klatscht einen selbsterfundenen Rhythmus, die im Kreis sitzende Gruppe klatscht ihn nach; jetzt klatscht Patient B einen Rhythmus, die Gruppe klatscht ihn nach usw. Die Wechsel vollziehen sich bei solchen Spielen taktweise, so dass ein Gefühl rhythmisch-metrischer Gliederung entwickelt wird. Der Phantasie sind hier wenig Grenzen gesetzt. Es funktioniert auch mit geschlagenen Rhythmusinstrumenten oder mit gesprochenen (oder gesungenen) sinnfreien Silben.

Oft genug hat ein Patient früher an bestimmten Tätigkeiten Freude gehabt, die im Zuge depressiver Verstimmung verblasst oder "verschüttet" worden ist. Es gibt deshalb die Möglichkeit, wieder aktiver zu werden, indem der Therapeut dem Patienten die Möglichkeit gibt, Freude an konkreten Alltagstätigkeiten wiederzubeleben. Das kann z.B. so aussehen, dass ein Patient, der früher gern ins Hallenbad gegangen ist, aber seine Freude daran verloren hat, vom Therapeuten dazu ermuntert wird, den Aufenthalt in einem Hallenbad musikalisch darzustellen, bzw. jene Stimmung, in der er sich früher dabei befand; der Therapeut unterstützt ihn dabei musikalisch. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass der Therapeut dem Patienten eine geeignete Musik vorspielt und den Patienten bittet, sich dabei den Aufenthalt im Hallenbad möglichst lebhaft vorzustellen. Dies ist natürlich nur ein Beispiel von vielen und lässt sich auf die verschiedensten Tätigkeiten übertragen. Auch auf solche, die für den Patienten neu sind, zu denen er aber einen Zugang finden möchte (etwa wenn ein Patient noch nie gemalt hat, aber vorhat, sich damit zu befassen).

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